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Ü 50 mit MS und der Mut zur Lücke

Kolumne von Caroline Régnard-Mayer

Mit Multipler Sklerose zu leben und „alt“ zu werden, bietet auch seine Vorzüge. Zum einen kennt man seinen eigenen Körper, die Reaktion auf MS-Symptome, den Verlauf und die damit einhergehenden Veränderungen. Außerdem schöpft man aus einem reichen Schatz an Erfahrungen.

 

Was bedeutet „Mut zur Lücke“?
Unter diesen Worten verstehe ich die Veränderungen, die wir im Leben alle durchleben, und wie wir diese auch im Alter annehmen; flexibel ebenso im Alter zu sein. Oft können wir mit Unsicherheiten und Vorhersehbarkeiten – gerade in Bezug auf eine chronische Erkrankung MS – jenseits der 50 besser umgehen. Mut zur Lücke, das heißt für mich: Raus aus der Starrheit, alte Gewohnheiten abstreifen und trotz Ü 50 neue Herausforderungen annehmen. Konzentrieren wir uns doch einmal auf die positiven Aspekte, die das fortgeschrittene Alter mit sich bringt. Neue Interessen und daraus entstehende Erfahrungen ermöglichen uns eine bessere Lebensqualität und einen besseren Umgang mit täglichen Herausforderungen – und das erleichtert uns das Leben. Es geht darum, sich auch im Alter eine positive Einstellung zu bewahren und den Prozess der Vergänglichkeit anzunehmen. Denn manches läuft eben nicht mehr so rund, wie in den jungen Jahren. Aber das ist doch egal: wir haben Mut. Mut zur Lücke.

 

Meine kleine Vorgeschichte
Seit über 19 Jahren lebe ich mit der Diagnose MS. Die Verlaufsform: zu Beginn hochaktiv, seit über 12 Jahren chronisch. Da sich erste Krankheitszeichen nach der Geburt meiner Tochter (im Jahr 1995) zeigten, begleitet mich die MS inzwischen seit 28 Jahren. Ich bin also „alt“ geworden mit der Krankheit, was mich aber nicht daran hindert, ein aktives Leben zu führen. Mut zur Lücke bewies ich bereits mein ganzes Leben. Vielleicht fällt es mir deswegen leicht, einen Alltag mit einer chronischen Erkrankung besser anzunehmen. Doch auch bei mir gibt es natürlich schlechte Tage. In die Knie zwingen, lasse ich mich dennoch nicht.

 

Ü 50 mit MS – kein Problem!
Ich gehöre zu den MS-Betroffenen im fortgeschrittenen Alter. Jedoch ist die Herausforderung auch mit zunehmendem Alter keine andere. Trotzdem unterscheiden sich der Umgang, das Selbstmanagement und die Bedeutung der Lebensqualität in vielen Punkten. Ebenso medizinische Aspekte, Selbstverwirklichung und die Unterstützung in Alltagssituationen. Wird man an die Hand genommen, meistert man die Erkrankung im fortgeschrittenen Alter ebenfalls. 

 

Unsichtbare Symptome werden sichtbar
Es ist wohl kein Märchen, wenn ich sage, dass man im Alter weder widerstandsfähiger ist, noch mehr Möglichkeiten der Regeneration hat. Der persönliche Umgang mit Symptomen ist ein erster Schritt. Die Erkenntnis, dass einige Symptome mit voranschreitender MS und dem Alter zunehmen, erfordert ein neues Denkmuster und der Umgang damit muss neu erlernt werden.

 

Dein Körper und deine Psyche verändern sich
Wenn du also auch Ü 50 bist: Ein halbes Leben und mehr liegt hinter dir und da ist es ganz normal, dass sich dein Körper und deine Psyche verändert hat. Da erzähle ich dir nichts Neues. Doch mit einer chronischen Erkrankung kann sich noch viel mehr verändern: Symptome, Therapie und die Lebensweise. Symptome wie Müdigkeit (oft intensiver im Alter), Muskelschwäche, Koordinationsprobleme, Gangunsicherheit (erhöhtes Sturzrisiko), Sehstörungen (eine Brille hält Einzug), kognitive Störungen und emotionale Veränderungen sind möglich. Oftmals treten diese Beschwerden im Alter häufiger auf und deine Mobilität ist stärker eingeschränkt – du bist vielleicht weniger selbstständig. Nun heißt es: handeln!

 

Unterstützende Maßnahmen, die dir mit Ü 50 helfen können
Therapiemöglichkeiten wie Physio-, Ergo- und Logotherapie können dich bei verschiedenen MS-Symptomen unterstützen. Bei einer Depression ist es wichtig, dass du dir Hilfe suchst. Probiere eventuell alternative und unterstützende Therapien aus. Das können Hippotherapie, Entspannungstechniken wie Qigong oder Feldenkrais sein. Oder informiere dich intensiver über eine gesunde Ernährung. Wobei gerade dieser Punkt bereits nach der Diagnose ein wertvoller Impuls ist. Denn auch die Themen Ernährung, Bewegung, Entspannung und Hilfsmittel dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Für all diese unsichtbaren und sichtbaren Symptome gibt es Medikamente; doch sie sollten nicht die erste Wahl sein!
In meinen Augen ist es außerdem sehr sinnvoll, Menschen an der Seite zu haben, die dich zu Arztbesuchen begleiten und deine genaue Krankheits- und Medikamentengeschichte kennen. 

 

Diese Hilfsmittel unterstützen dich
Es gibt selbstverständlich auch junge MS-Betroffene, die auf Hilfsmittel angewiesen sind. Doch im fortgeschrittenen Alter und je nach Dauer der Erkrankung rücken dir die Hilfsmittel doch schneller auf die Pelle – und sind später unvermeidlich. Hilfsmittel schränken nicht ein, sondern geben dir Lebensqualität zurück. Deine Teilhabe am gesellschaftlichen und familiären Umfeld sind somit gesichert. Neben einem Gehstock, einem Rollator oder Rollstuhl gibt es unendlich viele Unterstützer im Alltag. Im Haushalt kannst du dir Flaschenöffner, Knopfschließer und auch eine Anziehhilfe für Strümpfe oder Kompressionsstrümpfe kaufen – oder verschreiben lassen. Im Bad sind ein Duschhocker und Halterungen eine große Hilfe. Wenn du an einer Fußhebeschwäche leidest, kannst du eine Orthese ausprobieren. Das Repertoire an Hilfsmitteln ist unerschöpflich.

 

Therapien und Medikamente
Die Behandlung von MS bleibt der Therapie in jüngeren Jahren ähnlich. Medikamente können eingesetzt werden, um Symptome zu lindern. Der Krankheitsverlauf wird durch eine entsprechende Therapie verlangsamt. Hier möchte ich erwähnen, dass sich viele Neurolog*innen und Ärzt*innen bei älteren Patient*innen (jenseits der 50) oft gegen eine Therapie aussprechen. Vor allem, wenn man zahlreiche Immunmodulatoren und Immunsuppressiva ausprobiert hat. Hier wird der Nutzen dem Risiko solch einer Maßnahme gegenübergestellt. Oftmals können MS-Therapien an Wirksamkeit einbüßen, denn im Alter sinkt die Aktivität des Immunsystems. Da eine regelmäßige ärztliche Betreuung auch im Alter wichtig ist, wird dein*e Neurologe*in dich darüber aufklären.

 

Ruhe, Lebensstil und soziale Aktivitäten
Im Alter ist ein gesunder Lebensstil wichtig: Dazu gehören die ausgewogene Ernährung, körperliche Aktivitäten und Ruhe im Alltag. Schlaf ist für uns essenziell. Deswegen solltest du einen guten Schlaf-/Wachrhythmus für dich finden. Das Stichwort lautet: Schlafhygiene.
Auch die Unterstützung deines sozialen Umfelds (Familie, Kinder, Freunde und Nachbarn) spielt eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung von MS im fortgeschrittenen Alter. Pflegekräfte können dir ebenso bei der Bewältigung des Alltags helfen. Denn wer sagt, dass man mit fortgeschrittener MS im Alter nicht noch aktiv am Leben teilnehmen kann?
Wenn du dich einsam fühlst oder einfach neue Leute kennenlernen möchtest, ist vielleicht eine Selbsthilfegruppe etwas für dich. Zur Erleichterung und Unterstützung bei psychischen Problemen ist ein Psychologe gefragt oder du beantragst eine Rehabilitation, um wieder zu Kräften zu kommen und dein inneres Gleichgewicht zu finden.

 

Diagnose mit Ü 50
Der größte Teil der MS-Erkrankten bekommt die Diagnose zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Doch es gibt auch Kinder und Jugendliche und ebenso ältere Menschen, die die Diagnose erhalten. Bei der MS-Diagnose über 50 geht man davon aus, dass die Krankheit bei einem Teil der Patient*innen bereits geschlummert hat, aber nicht deutlich aktiv war. Die Symptome waren also nicht besonders auffällig. Durch die heutigen Untersuchungsmöglichkeiten wie MRT & Co. können aber auch Menschen mit über 50 und 60 eine Erstdiagnose erhalten, auch wenn das eher seltener vorkommt. Außerdem sind Männer im fortgeschrittenen Alter stärker betroffen als Frauen. In jüngeren Jahren ist genau das Gegenteil der Fall.
Bei einer MS-Diagnose im höheren Alter kann man oft nicht eindeutig zwischen einem schubförmigen oder schleichenden (progredienten) Verlauf unterscheiden. Wobei: wenn der Patient oder die Patientin älter wird, geht der Verlauf meist ohne Schübe einher und die Progression nimmt zu.

 

Begleiterkrankungen und Ideen zum Umdenken
Oft nehmen im Alter auch die altersbedingten Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Beschwerden, Diabetes, Rheuma, Arthrose, Herzerkrankungen zu. All diese Krankheiten erschweren das Leben mit einer Multiple Sklerose im Gepäck. Es ist daher von großer Bedeutung, dass altersbedingte Maßnahmen ergriffen werden: sich Gedanken über eine unterstützende Pflege zu machen (einen Pflegegrad beantragen), wie die Wohnsituation verbessert werden kann, welche mobile Unterstützungen gibt es, welche Therapien wie Physio- und Ergotherapie gibt es in der Nähe oder ein Hilfsmittel beantragen. 
Abschließend möchte ich betonen, dass MS im fortgeschrittenen Alter nicht zwangsläufig zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität führen muss. Viele führen auch ein aktives Leben entsprechend ihrer Vitalität und passen ihre Bedürfnisse und ihren Alltag entsprechend an. Und habe bitte den Mut zur Lücke!

 

Eure Caro

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Wer schreibt hier?

Caroline Régnard-Mayer ist alleinerziehende Mama – seit 22 Jahren. Ihre MS-Diagnose bekam sie 2004, aber erste Symptome bemerkte sie bereits nach der Geburt ihrer Tochter 1995. Heute im chronisch progredienten Verlauf. Was Caro nicht daran hindert, im Behindertenbeirat ihrer Stadt zu arbeiten und seit über 15 Jahren eine Selbsthilfegruppe zu leiten. Außerdem schreibt sie Bücher, bloggt regelmäßig auf ihrem eigenen Blog und gründete eine Klettergruppe für Menschen mit MS oder anderen Einschränkungen. Das fördert ihren Austausch mit anderen, sich für Rechte und Inklusion einzusetzen und zu zeigen, dass man gemeinsam stark und laut sein kann, um etwas zu ändern. Ebenfalls möchte sie Außenstehenden die MS erklären, damit man besser verstanden wird. Ihre Botschaft: glücklich trotz und mit MS und den eigenen Weg gehen!

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