Mama sein mit MS und ein Rückblick mit meinem Sohn
Kolumne von Caroline Régnard-Mayer
Alleinerziehende Mama
Ich bin seit 22 Jahren eine alleinerziehende Mama. Heute sind meine Kinder erwachsen. Doch als ich die Diagnose bekam, waren meine Tochter acht und mein Sohn fünf Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits seit drei Jahren alleinerziehend.
Die Diagnose und fortan eine chronische unheilbare Erkrankung zu haben, belastete mich in den ersten Jahren sehr. Das Leben als Mama mit MS war und ist eine besondere Herausforderung. Symptome wie Fatigue, Blasenschwäche, Geh-Probleme, neuropathische Schmerzen, diverse Schübe mit Behandlungen teils in der Klinik, wirbelten unseren Alltag durcheinander. Dadurch musste ich mir eine gute Organisation aneignen und auch den Kindern Multiple Sklerose erklären. Ebenso baute ich mir eine soziale Unterstützung auf: Ein Ganztagskindergarten und -schule, meine Eltern waren stark involviert und ebenso Eltern von Freunden meiner Kinder.
Meine Kinder und ich als betroffene Mama
Beide Kinder gingen, jeder für sich, anders mit meiner Diagnose um. Mein Sohn stellte viele Fragen und war offensiv. Meine Tochter – selbst als Kind schwer krank – beobachtete und wünschte sich einfach, dass wir wie andere Familien „normal“ weiterleben. Das war leider durch meine zu Beginn hochaktive MS kaum möglich.
Oft musste ich zum Arzt oder in die Klinik, was für mich sehr schwierig war, weil ich meine Kinder dann nicht sehen konnte. Ich hatte all die Jahre ein schlechtes Gewissen. Heute sagen beide, dass sie eine schöne Kindheit hatten und sich auch an vieles nicht mehr erinnern. Außer daran, dass ich immer für sie da war und viel geopfert habe. Das berührt mich sehr und wenn ich zurückblicke, würde ich es heute nicht anders handhaben. Sie waren und sind mein Lebensmittelpunkt. Ich habe nicht das Gefühl, etwas geopfert zu haben. Natürlich musste ich auf Einiges verzichten, das gehört für mich aber zum Mama sein dazu.
In der Klinik telefonierte ich täglich mit ihnen, und sie kamen mich oft besuchen. Meistens spielte ich die starke Mama, denn ich finde, nicht jeder Schmerz und jede Komplikation der Erkrankung müssen Kinder mitbekommen.
Meine Gedanken zum Umgang mit MS und Kindern
Für mich war immer wichtig, dass ich auch in Schubphasen mit Verschlechterungen für beide Kinder mental da war. Auch der Kontakt zu ihnen aus der Klinik oder der Reha halte ich für wichtig. Nur eine verbale Umarmung war möglich, doch später konnte ich sie in die Arme schließen. Auch Lachen ist essenziell. Ebenso wie trotz Widrigkeiten etwas zusammen zu unternehmen und den Humor trotz all der Last nicht zu verlieren. Die MS ist nicht das Ende, für viele sogar ein Neubeginn. Außerdem ist es mit Kindern absolut möglich, ein (fast) normales Leben zu führen.
Kinder haben feine Antennen
Ein Kind darf spüren, dass es gute und schlechte Tage gibt. Doch sollte man sie vor der eigenen Angst und negativen Gedanken schützen. Darüber sollte man sich wirklich nur mit dem Partner, Therapeuten oder mit Freunden austauschen.
Kinder haben sehr feine Antennen und spüren schnell, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Mein Grundsatz ist, dass ich nichts vorgespielt oder sie belogen habe. Sondern ich habe beiden vieles erklärt und Verständnis gezeigt. Auch kleine Kinder verstehen sehr viel und mit einfachen Worten erklärt man ihnen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen und dass bald wieder alles gut wird. Sie gewöhnen sich schnell an Hilfsmittel oder daran, wenn sie mehr Unterstützung von der Familie oder anderen Menschen benötigen. Es wird eines Tages selbstverständlich sein. Das kann ich aus eigener Erfahrung berichten und sehe es bei sehr vielen Familien, in denen einer der Eltern ein Handicap hat.
Gedanken meines Sohnes
Ich habe meinen Sohn gefragt, wie er meine MS wahrnahm. Joel sagt, als er klein war, realisierte er die Krankheit gar nicht. Für ihn war unser Familienleben und Alltag normal. Zu mir sagte er: „Gefühlt warst du schon immer krank – genau das fühlte sich für mich ‚normal‘ an. Ich habe bei Fremden gesehen, dass die Mutter sich nach dem Mittagessen nicht hinlegen musste oder andere Dinge tat, die du nicht mehr tun konntest. Es war jedoch nicht schlimm für mich, man hat sich daran gewöhnt, man ist damit umgegangen.“
Die MS richtig realisiert hat mein Sohn im Alter von etwa 15 Jahren. Die Krankheit hatte nun einen Namen. Er befasste sich mit dem Krankheitsbild und auch damit, dass ich krank bin und die MS (wahrscheinlich) nie geheilt werden kann. Das war die Zeit, in der er den Tod seines Vaters (2011) verarbeiten musste. Auch Ängste kamen auf, dass ich eines Tages nicht mehr da bin: „...da kam es in mein Bewusstsein und ich habe die letzten 5 Jahre verarbeitet und realisiert. Ich habe mich nicht abgefunden oder arrangiert, dass es so ist, wie es ist. Die ganze Situation hat meine Kindheit nicht negativ beeinflusst.“
Von klein auf hat mein Sohn seinem Umfeld und seinen Freunden erzählt, wie und was meine Krankheit bedeutet, wie mein Verlauf ist und welche Einschränkungen ich habe. Er schämte sich nicht und ging sehr offen gegenüber den Menschen damit um – bis heute.
Als Mama konnte ich nicht so viel leisten, wie andere Mütter, z. B. in der Schule helfen, an Schulfesten aufbauen oder an einem Stand stehen. Deswegen engagierte ich mich bereits im Kindergarten im Elternbeirat und später in der gesamten Schullaufbahn meiner Kinder. Tochter und Sohn fanden das super und waren auch stolz.
„Meine Frohnatur hat mich als Kind viel gelehrt und das bis heute.“
Mein Sohn sagt heute mit Rückblick auf seine Kindheit und Jugend: „Ich bin ein fröhlicher Mensch, bis heute, denn ich bin ja selbst nicht betroffen. Meistens bin ich positiv drauf, weil es nicht schlimmer kommen kann. Denn es ist nun mal so, dass mein Vater verstorben ist und meine Mutter krank. Ich akzeptiere diese Gegebenheiten. Meine Mutter hat immer dafür gesorgt, dass ich selbstständig bin. Denn von Natur aus bin ich das nicht. Deswegen hat Mama wert daraufgelegt, dass ich viel selbst mache, beispielsweise mich selbst irgendwo anmelde. Später – im entsprechenden Alter – zeigte und erklärte sie mir den Ablauf von Versicherungen und Bank-Dingen. Bei Fragen ist meine Mutter immer für mich da. Ich fülle mit ihrer Hilfe Formulare aus und sie erklärt mir seit Jahren alles, was wichtig ist, wenn sie nicht mehr kann oder da ist, damit ich mich in der Welt zurechtfinde. Genau dasselbe hat sie mit meiner Schwester gemacht. Egal, um welche Uhrzeit wir anrufen oder ob aus dem Ausland, aus dem Urlaub oder in kniffligen Situationen, wir können auf unsere Mutter bauen. Dadurch bin ich offen und selbstständig geworden und löse meine Probleme selbst.
Seit einigen Jahren fahren meine Schwester und ich abwechselnd mit unserer Mutter ein paar Tage in den Urlaub. Da sie mittlerweile einen Rollator und Rollstuhl benötigt, helfen wir ihr damit. Und mit unserer Mama ist ein Ausflug oder Urlaub immer ein Abenteuer. Etwas Schräges passiert immer und hinterher lachen wir alle gemeinsam. Man lernt mit allen möglichen Dingen umzugehen. Das hat uns enger zusammengeschweißt. Ich stehe meiner Mutter sehr nahe, erzähle ihr alles. Ich habe ein sehr offenes Verhältnis mit ihr.
Ich weiß auch viel über meine Mutter. Gemeinsame Erlebnisse haben uns noch stärker zusammengebracht.“
Was meine Kinder heute denken und warum ich stolz auch auf mich sein kann
Ich bin Bloggerin. Laut meines Sohnes ist das skurril und meine Tochter meint, ich sei eine Influencerin. Letzteres bin ich nicht und möchte ich auch nicht sein. Aber bloggen und schreiben sind echt meine Passion. Mein Sohn und ich reden viel über meinen Blog und ich erkläre ihm die Technik und die Themen. Beide meinen, ich sei cool, weil ich als ihre Mama so bekannt in MS-Kreisen und in den sozialen Netzwerken bin. Ob ich das cool finden soll, das weiß ich nicht, aber so ein kleines bisschen stolz macht es mich, wenn die Kinder mich so sehen.
Ich engagiere mich im Behindertenbeirat und einer Selbsthilfegruppe. Da kam dann die Äußerung: „Du bist ja echt der Hammer.“ Da musste ich doch herzlich lachen.
Mein Sohn sagt: „Mama ist eine meiner Vorbilder. Sie treibt mich voran, dass es vorwärtsgeht und bestärkt mich, ohne sich einzumischen. Es gibt fast immer eine Lösung, um weiterzumachen!“ Das empfindet auch meine Tochter so, wobei ich sie sehr wenig sehe, da sie beruflich sehr eingespannt ist. Außerdem liebe Eltern, meine Tochter ist das Gegenteil meines Sohnes: Kein Einmischen, keine ungefragte Meinung, unauffällig beim Zusammenkommen.
Tipps von Joel für andere Kinder
Meine Tipps und Gedanken habe ich nun aufgeschrieben, doch mein Sohn schrieb in mein Kinderbuch, dass er für absolute Offenheit ist und dies einer der wichtigsten Punkte in seinem Umgang mit meiner Erkrankung und mir war. Trotz der Tatsache, dass ich krank bin, reagiert er offen und empathisch anderen Menschen gegenüber. Jetzt muss ich doch ihn zitieren, weil ich das nicht genauer ausdrücken kann: „Ich musste zwar in meiner Kindheit und Jugend viel helfen, aber das hat mir geholfen, allgemein auch sehr hilfsbereit zu sein. Versucht positiv zu bleiben, denn es gibt für alles eine Lösung.“
Und meine Meinung: Ich sehe das auch wie mein Sohn. Liebe Eltern, bleibt positiv, offen, empathisch. Für alles gibt es tatsächlich meistens eine Lösung!
Deine Caro
Wer schreibt hier?
Caroline Régnard-Mayer ist alleinerziehende Mama – seit 22 Jahren. Ihre MS-Diagnose bekam sie 2004, aber erste Symptome bemerkte sie bereits nach der Geburt ihrer Tochter 1995. Heute im chronisch progredienten Verlauf. Was Caro nicht daran hindert, im Behindertenbeirat ihrer Stadt zu arbeiten und seit über 15 Jahren eine Selbsthilfegruppe zu leiten. Außerdem schreibt sie Bücher, bloggt regelmäßig auf ihrem eigenen Blog und gründete eine Klettergruppe für Menschen mit MS oder anderen Einschränkungen. Das fördert ihren Austausch mit anderen, sich für Rechte und Inklusion einzusetzen und zu zeigen, dass man gemeinsam stark und laut sein kann, um etwas zu ändern. Ebenfalls möchte sie Außenstehenden die MS erklären, damit man besser verstanden wird. Ihre Botschaft: glücklich trotz und mit MS und den eigenen Weg gehen!
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