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Krankheit als Vollzeitjob: Mein Weg als berufsunfähige junge Frau

Kolumne von Nora Hamann

Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich davon überzeugt war, dass ich alles erreichen kann. Die Welt schien unendliche Möglichkeiten zu bieten und ich war bereit, jeden einzelnen Traum zu verfolgen. Ich war im zweiten Ausbildungsjahr zur operationstechnischen Assistentin, kurz nach den Zwischenprüfungen, als meine Augen begannen, eine Sehstörung zu entwickeln und Schwindel zu meinem täglichen Begleiter wurde. 

 

Verdrängung statt Akzeptanz
Nach zwei Wochen bin ich (auf Drängen meiner Mama) endlich zum Arzt gegangen, der mich zu einem Spezialisten für Schwindel schickte. Dort wurde ich von oben bis unten durchgecheckt und sofort in die Uniklinik überwiesen. Viel Kortison, einige MRT’s, Lumbalpunktion, Blutentnahmen und Tränen später dann die Gewissheit: Ich habe Multiple Sklerose. 

Der Tag, an dem ich die Diagnose erhielt, fühlte sich an, als hätte jemand den Boden unter meinen Füßen weggezogen. Die Diagnose hat eine Achterbahn von Emotionen ausgelöst. Von Schock und Verleugnung über Wut und Frustration bis zu Traurigkeit und Verzweiflung. Die Unsicherheit über die Zukunft, die Angst vor den Symptomen und die Sorge um meine Unabhängigkeit waren überwältigend. Ich fand mich in einem ständigen Kampf zwischen der Person, die ich einmal war, und der Person, die ich aufgrund der Krankheit werden könnte.
Ich habe mich geschämt, als wäre die Erkrankung ein Makel und ich dachte, die beste Lösung wäre es, sie einfach zu ignorieren. Frei nach dem Motto „was von allein kommt, geht auch wieder von allein“. 
Eine Weile hat das sogar relativ gut funktioniert, doch schon mit Beendigung meiner Ausbildung habe ich gemerkt, dass ich nicht mein ganzes Leben lang in meinem Beruf arbeiten kann. Ich hatte schon zwei Medikamentenwechsel hinter mir, hatte immer wieder neue Entzündungsherde im Kopf und meine Symptome haben sich stetig verschlechtert. Simultan zu meinem Vollzeitjob habe ich dann begonnen Psychologie im Fernstudium zu studieren, um perspektivisch mehr Möglichkeiten in meiner Zukunft zu haben.

 

Neuer Schub: Der Wendepunkt
Knapp drei Jahre nach meiner Diagnose hatte ich einen Schub, der mein Leben komplett auf den Kopf gestellt hat. Ich habe mich ähnlich gefühlt wie bei meiner Erstdiagnose. Mir war rund um die Uhr schwindelig und meine Sehstörung wurde so schlimm wie selten davor. Ich habe knapp eine Woche gewartet, bis ich meine Neurologin kontaktiert habe. Ich hatte Angst. Ich wusste, was mit mir passiert, wollte es aber einfach nicht wahrhaben. Als junge Frau, die gerade erst in ihre berufliche Karriere startete, war die Vorstellung, berufsunfähig zu werden, für mich unvorstellbar. Ich hatte große Träume und Ziele, die ich erreichen wollte. 

Aber MS hatte andere Pläne für mich. Meine feinmotorischen Fähigkeiten, das Ausmaß meiner Fatigue, Sensibilitätsstörungen und die Zuverlässigkeit auf meine körperlichen Fähigkeiten haben sich nach dem Schub nie ganz zurückgebildet. Lange hatte ich Hoffnung, dass es sich vielleicht doch noch verbessert, aber die Diskrepanz zwischen dem was ich konnte und dem, was ich bringen müsste, um verantwortungsbewusst meinen Job ausüben zu können, war einfach zu groß. 

 

Berufsunfähig mit Mitte Zwanzig
Auf Wunsch meiner Krankenkasse war ich drei Wochen lang in einer Reha, um durch Berufstherapeutische Maßnahmen meine Fähigkeiten einstufen zu können und mögliche Alternativen zu finden. Die Therapeuten waren sich einig und so hatte ich es am Ende der Reha schwarz auf weiß: Frau H. wird durch ihre körperlichen Einschränkungen nicht in der Lage sein, wieder am beruflichen Alltag im OP-Saal teilzunehmen. Ich habe mit keinem anderen „Urteil“ gerechnet und doch war es wie ein Schlag ins Gesicht. 
Ich war wütend, traurig, verzweifelt, überwältigt von der großen Leere, die vor mir zu liegen schien. Es ist wichtig, diese Gefühle zuzulassen und sich Zeit zu nehmen, um sie zu verarbeiten. Denn nur, indem wir uns mit ihnen auseinandersetzen, können wir beginnen, einen Weg nach vorn zu finden. 

Der Übergang zur Berufsunfähigkeit war nicht einfach. Es bedeutete, dass ich viele meiner beruflichen Ziele und Träume aufgeben musste. Ich musste mich mit Fragen auseinandersetzen, wie „Was mache ich jetzt?", und „Wie finde ich meinen Platz in dieser Welt?" Es war ein schmerzhafter Prozess des Loslassens und der Neuausrichtung. In einer Gesellschaft, in der Wert und Erfolg daran gemessen wird, wie viel man beruflich leistet und wie viel Geld man verdient, habe ich mich plötzlich überflüssig gefühlt. Schließlich kann ich der Welt jetzt keinen Mehrwert mehr bieten, oder? 
Ich habe mich gefühlt wie ein Taugenichts und musste mich jeden Tag daran erinnern, dass die Entscheidung nicht in meinen Händen lag und die Tatsache, dass ich jetzt immer zu Hause sein werde, nichts damit zu tun hat, dass ich faul bin. Ich war psychisch und emotional überfordert und erschöpft. Immer wieder bin ich Menschen begegnet, die mir unreflektierte Aussagen wie „Ich wäre so gern auch den ganzen Tag zu Hause, du hast es so gut, du musst nicht arbeiten“ an den Kopf warfen, ohne zu wissen, wie schmerzhaft solche Aussagen sein können. 

Es macht keinen Spaß, mit Mitte zwanzig zu Hause zu sitzen, finanziell abhängig von anderen zu sein und in einem Loch der Perspektivlosigkeit zu hängen. Natürlich hatte ich noch mein Studium, aber auch das musste ich gezwungenermaßen pausieren, um mich auf meine Gesundheit zu konzentrieren. Um meinem Körper die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen, ohne Stress und ohne Druck. Aber im Laufe der Zeit begann ich, mein Leben aus einer neuen Perspektive zu sehen. Ich erkannte, dass meine Wertvorstellungen sich verschoben hatten. Es ging nicht mehr nur darum, Karriere zu machen und beruflichen Erfolg zu haben. Es ging darum, jeden Tag zu schätzen und das Beste aus dem zu machen, was ich hatte.

MS hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, auf meinen Körper und meine Gesundheit zu achten. Ich habe gelernt, Geduld mit mir selbst zu haben und mich nicht mehr über die kleinen Dinge zu ärgern. Ich habe gelernt, dass es in Ordnung ist, um Hilfe zu bitten und Unterstützung anzunehmen, wenn ich sie brauche.

 

Meine Learnings durch das Leben mit MS
Das Leben als junge Frau mit MS ist sicherlich nicht das, was ich mir vorgestellt hatte, aber es hat mir eine neue Art von Stärke und Entschlossenheit gegeben. Ich habe die Bedeutung von Selbstfürsorge und Achtsamkeit erkannt und schätze die Liebe und Unterstützung meiner Familie und Freunde mehr denn je. Die Diagnose MS hat mir gezeigt, dass das Leben unvorhersehbar ist und sich unsere Pläne oft ändern. In dieser neuen Realität habe ich gelernt, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zu schätzen. Jeder Tag bringt neue Herausforderungen mit sich, aber er bringt auch die Gelegenheit, neue Wege zu finden, um Hindernisse zu überwinden. 
Einer der Aspekte, die mich am meisten überrascht haben, ist die Kraft der Gemeinschaft. Ich habe andere Menschen mit MS getroffen, die ähnliche Kämpfe durchmachen, und ihre Geschichten haben mich inspiriert. Wir haben uns gegenseitig ermutigt, unser Bestes zu geben und niemals die Hoffnung zu verlieren. 

In meiner Reise mit MS habe ich auch das Gesundheitssystem aus einer anderen Perspektive kennengelernt. Arztbesuche, Medikationen und Therapiesitzungen sind zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden. Ich habe gelernt, wie wichtig es ist, eine aktive Rolle in meiner eigenen Gesundheitsversorgung zu spielen und mich über meine Behandlungsoptionen zu informieren. 

Eines der Dinge, die ich mir gewünscht hätte, als ich die Diagnose erhielt, war, dass mehr Menschen die Realität von MS verstehen würden. Es gibt immer noch viele Missverständnisse und Vorurteile gegenüber dieser Krankheit. Menschen mit MS sehen oft gesund aus, aber sie kämpfen jeden Tag mit unsichtbaren Symptomen und Herausforderungen. Die Sensibilisierung für MS ist entscheidend, um das Verständnis und die Unterstützung in der Gesellschaft zu fördern. 

Ich habe gelernt, dass die Definition von Erfolg sich ändern kann. Es geht nicht mehr nur darum, beruflichen Erfolg zu erreichen, sondern auch darum, ein erfülltes und bedeutungsvolles Leben zu führen. Erfolg kann darin bestehen, anderen zu helfen, sich selbst zu lieben und jeden Tag als ein Geschenk zu betrachten.

 

An alle MS-Kämpfer*innen da draußen: Du bist mutig, stark und wertvoll. Du hast die Fähigkeit, deine Träume zu verfolgen und Glück und Erfüllung in deinem Leben zu finden, unabhängig von den Umständen. Lass die MS nicht deine Identität bestimmen, sondern lass deine Entschlossenheit und dein Lächeln den Ton angeben. Das Leben mit MS ist eine Reise, und auf dieser Reise gibt es immer Raum für Wachstum, Hoffnung und Liebe. Du bist nicht allein. 
Es gibt eine starke Gemeinschaft von Menschen, die deine Erfahrungen verstehen und dich unterstützen. Es ist in Ordnung, sich verwundbar zu fühlen und um Hilfe zu bitten. Du bist stärker, als du denkst, und du kannst dein Leben trotz der Herausforderungen, die die MS mit sich bringt, weiterhin in vollen Zügen genießen. 

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Wer schreibt hier?

Nora Hamann wurde 2018 mit Multipler Sklerose diagnostiziert. Sie teilt ihren Alltag mit dieser Krankheit auf Instagram. Parallel dazu studiert sie Psychologie im Fernstudium. Als Beraterin für Firmen zeigt sie ihnen die Einschränkungen von MS-Patienten auf und informiert über die Bedeutung von Inklusion. Ihr Ziel ist es, das Bewusstsein für die Bedürfnisse von Menschen mit MS zu schärfen und integrative Arbeitsumgebungen zu fördern. Durch Aufklärung und Sensibilisierung möchte sie Barrieren abbauen und das Verständnis für MS verbessern.


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